Statements der Herausgeber

Prof. Dr. Helmut K. Anheier und Prof. Dr. Klaus Hurrelmann
(wissenschaftliche Leitung)

Hauptstadt der Optimisten

Vor 25 Jahren lag Berlin plötzlich nicht mehr am Rande der Welt, sondern mitten in Europa. Die Stadt musste sich neu erfinden, ihre Bewohner sich neu orientieren. Es gab wirtschaftliche Erfolge und Nöte, hohe Erwartungen und tiefe Enttäuschungen, politische Verwerfungen und neue Bündnisse, schnelle Lösungen und Verzögerungen, alte und neue Planungsprobleme, einen veritablen Bauboom und unzählige Rechtsstreitereien um Immobilien und Liegenschaften – alles ging oft recht durcheinander. Typisch Berlin, könnte man sagen. Aber heute, ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall, scheint vieles davon ausgestanden zu sein. Berlin ist schon lange nicht mehr das Berlin der Wendezeit; und auch die Stagnation der letzten Dekade scheint überwunden. In keinem anderen Bundesland ist die Wirtschaft in den vergangenen Jahren stärker gewachsen als in Berlin - wenn auch von einem äußerst niedrigen Niveau aus. Die Stadt zieht wieder mehr Menschen an. Nicht nur Touristen, sondern auch neue Bewohner, die aus aller Welt kommen. Seit einigen Jahren wächst die Bevölkerung mehr oder weniger kräftig. Bis 2030 könnte die Zahl der Einwohner aktuellen Prognosen zufolge von jetzt 3,5 Millionen auf über vier Millionen ansteigen, und wäre zahlenmäßig dann fast dort, wo sie vor dann 100 Jahren war.

Heute ist Berlin die Stadt mit den meisten Besuchern und den meisten Unternehmensgründern in ganz Deutschland, mit Scharen von Politikern, Ministerialen und Interessenvertretern. Sie ist eine Hochburg der Akademiker, aber auch die Stadt mit der höchsten Hartz-IV-Dichte. Zwar entstehen viele neue Arbeitsplätze, aber die Arbeitslosigkeit bleibt für deutsche Verhältnisse erschreckend hoch. Es wird gebaut, aber viel zu wenig. Wo vor wenigen Jahren noch Wohnungsleerstand war, herrscht heute Wohnungsmangel. Die Infrastruktur fällt zurück. Vieles ist besser, aber nicht alles.

Optimismus und hohe Identifikation mit der Stadt

Was denken die Berliner über sich und ihre Stadt? Die Hertie Berlin Studie 2014 zeigt, dass sie trotz der immensen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und baulichen Umwälzungen mit sich und ihrer Stadt zufrieden sind. Die Zufriedenheit hat gegenüber 2009 sogar noch zugenommen, und zwar ausgeprägter, als es objektive Indikatoren wie Einkommen, Arbeitslosigkeit oder die Wohnungssituation vermuten lassen. Subjektiv sind die Berlinerinnen und Berliner eins mit ihrer Stadt. Die Zukunft der Stadt sehen zwei Drittel von ihnen optimistisch.

Ein erstaunliches Ergebnis gerade auch angesichts der hohen Integrationsleistungen, die vollzogen werden müssen: Ostberliner, Westberliner, Altberliner, Neuberliner, Deutsche und Zuwanderer – sie alle identifizieren sich schon nach kurzer Zeit mit der Stadt, leben gerne hier und teilen einen gewissen Grundoptimismus.
Berlin verändert sich weiter: Während das vertraute "Ost-West" langsam in den Hintergrund tritt, nimmt die Spannung zwischen "Innen und Außen" zu: Ein junger, internationaler, dynamischer Kern in Mitte, Prenzlauer Berg und Kreuzberg-Friedrichshain steht den älter werdenden Randbezirken wie Spandau oder Marzahn-Hellersdorf gegenüber. Gleichzeitig wächst die Sorge vor steigenden Mieten, vor einer Verdrängung ärmerer Schichten an den Rand der Stadt, vor dem Kippen der sozialen Balance.

Problemfeld Politik?

Das Bild der generellen Zufriedenheit zeigt sich auch im Verhältnis der Berliner zu ihrer Verwaltung. Die Arbeit der oft gescholtenen Ämter und Behörden wird von den Berlinern eher positiv wahrgenommen – trotz massiver Kürzungen und einer zunehmenden Überalterung der Belegschaft. Während die Berliner Verwaltung mit weniger mehr zu schaffen scheint, trifft dies auf die Politik der Stadt in den Augen der Befragten kaum zu. Das Interesse der Bürger an Politik hat seit 2009 leicht nachgelassen. Die Zufriedenheit mit der Demokratie und den Partizipationsmöglichkeiten hat zugenommen, befindet sich im deutschlandweiten Vergleich aber immer noch auf einem recht niedrigen Niveau. Die Leistung des Senats wird von den Berlinern eher kritisch gesehen, gerade in der Handhabung aktueller Probleme: Infrastruktur, Wohnungen, Armutsbekämpfung und Schulen.

War 2009 die Wirtschaft der Stadt das Problemfeld, so scheinen es heute die neuen Herausforderungen an die Politik zu sein, die den Bürgern zu schaffen machen. Dazu gehört auch die grundsätzliche Frage, wie Politik und Verwaltung mit einer zunehmend diversen Bevölkerung und deren Beteiligungs- und Mitgestaltungsansprüchen umgehen, ohne dabei den Blick fürs Ganze zu verlieren. Diese Spannungen zeigen sich vor allem an lokalen Themen wie dem Tempelhofer Feld.

Der Blick auf die Stadt und ihre Bewohner ergibt ein weitgehend positives Bild, wenn auch mit einigen Schwachpunkten. Die Wirtschaft legt zu, es kommen wieder mehr Menschen nach Berlin. Die Stadt ist jung und zunehmend international. Die soziale Nestwärme der Kieze kombiniert sie inzwischen mit der gelebten Ambivalenz, Exzentrik und Vitalität moderner Großstädte. Die Hauptstädter lieben ihre Stadt fast schon trotzig, obwohl sie noch immer nicht die wirtschaftliche und politische Kraft entwickelt hat, die Metropolen von internationalem Rang in der Regel auszeichnet und sie zum Champion ihres Landes machen.

Berlin bietet wie kaum eine andere deutsche Stadt ein großes Potential für weitere positive Entwicklungen. Wird dieses Potential von der Politik ausreichend erkannt und entsprechend umgesetzt? Eine Hertie Berlin Studie 2020 würde sich dieser Frage sicherlich annehmen.

Ausführliche Zusammenfassung


Eine ausführliche Zusammenfassung der Hertie-Berlin-Studie sowie eine Auswahl an Grafiken finden Sie hier.